Rituale, Zuflucht, Rückzug und Innere Ruhe

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Rituale geben uns mehr als auf den ersten Blick gedacht. Es lohnt sich einfach, über dieses Thema nachzudenken. Vieles tun wir immer wieder gerne und einfach weil wir es tun, wird es noch kein Ritual. Das Ritual ist bewusster, es geht tiefer. Haben wir erst verstanden, dass wir bestimmte Situationen im Leben besser meistern wenn wir einen Leitfaden in uns selbst haben, wird uns die Bedeutung klar. So kann das Ritual ein eigenes, ganz persönliches sein, während es andererseits im gesellschaftlichen Leben sehr wohl darauf ankommt, sich innerhalb eines rituellen Rahmens zu bewegen. Dabei können Rituale, die kennen und verinnerlicht haben, helfen. Für uns selbst und natürlich für unsere mitmenschlichen Beziehungen.

An dieser Stelle möchten wir jedoch Herrn Dr. Klaus Dirschauer kompetenter zu Wort und Satz kommen lassen. Wir freuen uns über seinen Beitrag und empfehlen, für weitere Informationen, die Seite dirschauer.info zu besuchen.

Oasen im Leben

In einer immer unsicherer werdenden Zeit sehnen sich viele Menschen nach Ruhepunkten. Nach gewohnten Orten und wiederkehrenden Zeiten, an denen sie innehalten und Kraft tanken. Rituale können solche intensiven Lebensmomente sein, die Sicherheit geben.

von Klaus Dirschauer

Oasen sind erquickende Ruhepunkte. Ich habe das Bild einer grünen Insel inmitten der Wüste vor Augen, voller üppig wachsender Pflanzen und quellenden Wassers. Ein Stützpunkt für Karawanen, die kommen und weiterziehen, ein Handelsplatz für Getreide, Gemüse und Früchte. Ein bewohnter Ort, Treffpunkt ankommender und wieder weiterziehender Menschen. In der Bibel, die so viel von der nomadischen Existenzweise des Volkes Israel und von Begegnungen Einzelner an Brunnen zu erzählen weiß, findet sich die epische Erinnerung an die Schöpfung der Oase Eden. Der Namen dieses Gottesgartens leitet sich von dem hebräischen Wort für »Wonne« ab.

Gelingen Rituale, so haben sie etwas Oasenhaftes, ja sogar etwas Paradiesisches an sich. Sie helfen uns anzukommen, aufgehoben zu sein, um dann wieder aufbrechen zu können. Rituale lassen uns erfahren, wie solche Kommunikationsinseln an den gegenseitigen Wegkreuzungen wirken können: Da ist der Fremde, der mich auf dem Bürgersteig freundlich grüßt und mich nach dem rechten Weg fragt, dessen Gruß ich erwidere, dem ich die Richtung weise und gutes Weiterkommen wünsche. Da kommt eine Frau geradewegs auf mich zu, vor der ich nicht auf die andere Straßenseite ausweiche, sondern die ich mit ihrem Namen grüße und der ich meine persönliche Anteilnahme am Tod ihrer Mutter zum Ausdruck bringe, der ich eine Weile zuhöre, bevor wir einander Adieu sagen müssen.

Solche Begebenheiten zünden im Alltag kleine Lichter an. Sie lassen erahnen, dass sich Rituale aus einer Begrüßung, einer verbindenden Gemeinsamkeit und einem Abschied zusammensetzen. Letztlich sind es diese drei menschlichen Grundsituationen, aus denen sich alle religiösen Riten, Bräuche und Gewohnheiten ableiten und auf die sie sich wieder zurückführen lassen: das Begrüßungsritual, das Gemeinschaftsritual, das Abschiedsritual.

Der Ritus der Begrüßung, der gottesdienstliche Wechselgruß des Pfarrers mit der Gemeinde – »Der Herr sei mit euch … und mit deinem Geist« – zeigt die Wurzeln dieses Rituals: Die gegenseitige Anrede wird großgeschrieben. In der Salutatio (Begrüßung) geht es um die Grundvoraussetzung, überhaupt beten zu können. Sie wird erst durch gegenseitige Vergewisserung möglich, durch die Bestätigung: Ich nehme dich wahr. Es mag verwundern, dass der ursprüngliche Sinn des Verbs grüßen auch die Bedeutung »angreifen« umfasste. Doch auch jemanden, den ich angreife, muss ich zunächst als Person wahrnehmen. Grüßen ist letztlich der Wunsch, auf Augenhöhe zu kommunizieren.

Das Gemeinschaftsritual zwischen Gruß und Abschied findet seinen Ausdruck oft im Symbol des Bettes. Das Bett kann das Lager einander zärtlich Liebender sein. Eltern vermögen mit einem Einschlafritual am Bett ihres Kindes – etwa durch ein Lied, eine Geschichte oder ein Gebet – das Kinderzimmer in ein Schlafzimmer zu verwandeln. Das Betteines Sterbenden, an dem ein Psalm gelesen oder gebetet wird, kann zum guten Ort eines letzten Abschieds werden. Auch dem Tisch kommt eine ähnliche Symbolkraft zu. An ihm kommen Menschen zusammen, um sich auseinanderzusetzen und um auch wieder friedlich auseinandergehen zu können. Freunde, von deren Sorgen man gehört hat, werden spontan an den Abendbrottisch gebeten, damit man ihnen zuhören, mit ihnen ihren Kummer teilen und gemeinsam beraten kann, ohne gleich Bescheid wissen zu müssen.

Das Abschiedsritual erst erlaubt, auseinanderzugehen und die Begegnung wiederholen zu können. Im Sprachgebrauch klingt dabei noch viel an. »Auf Wiedersehen, Wiederschauen« zielt einfach auf eine erneute Begegnung ab. »Bis bald«, das englische »Bye-bye« sowie das italienische »Ciao« tragen die gleiche Bedeutung wie »Gehab dich wohl, leb wohl, mach’s gut«. Das lateinische »Servus« drückt Ergebenheit aus: »Ihr Diener«. »Ade, Adieu, Tschüs« gehen auf das lateinische »ad deum« zurück und bedeuten: »Ich befehle dich Gott« oder »Behüt dich Gott«.

Rituale sind auch Zeitansagen. Die Motive Begrüßung, Gemeinschaft und Abschied durchziehen auch die drei Zeitrechnungen, in die wir hineingeboren werden. Wir haben das Naturjahr mit den Jahreszeiten, dem Tag-Nacht-Wechsel und den Gezeitenkräften. Dieses Naturjahr lädt zu jahreszeitlichen Festen ein. Das Kalenderjahr, in dem der Tag der Geburt festgehalten wird, hat ebenfalls seine Rhythmen: die Sonntage als Feiertage, dazu den Neujahrstag, den Karneval als Frühlingsfest, den 1. Mai als Tag der Arbeit und den 3. Oktober als Tag der Deutschen Einheit. Im Kirchenjahr schließlich verbindet sich die frohe Botschaft des Mensch gewordenen Gottes mit unserer Existenz. Jahr für Jahr inszeniert die Kirche in ihren Gottesdiensten das Leben eines Menschen zwischen seinen Endpunkten Geburt und Tod in der Person Jesu – und damit auch Gottes Auf-die-Welt-Kommen und sein Von-der-Welt-Gehen. Den Anhalt für diese Wiederholung geben die Perfekt-Partizipien im Glaubensbekenntnis vor: empfangen, geboren, gelitten, gekreuzigt, gestorben, begraben, auferstanden. Das Kirchenjahr beginnt mit den Begrüßungsritualen der Advents-, Weihnachts- und Epiphaniaszeit. Auf den Abschied am Karfreitag, dem Todestag Jesu, antworten tröstlich die Begrüßungs- und Gemeinschaftsrituale der Feste Ostern und Pfingsten. Das Ende des Kirchenjahres in der stillen Zeit im November schließlich schenkt uns mit den Festen Allerheiligen, Allerseelen und Ewigkeitssonntag die Möglichkeit, das schwere Abschiednehmen von Mensch zu Mensch rituell aufzufangen. Insofern beschreibt das Kirchenjahr eine Wüstenreise, die uns immer wieder zu Kraft spendenden Oasen führt.